Löws letzte Kadernominierung – Ein Kommentar
Die Nominierung des deutschen Kaders – das war früher einmal ein mit Argusaugen beachtetes Medienereignis. Heuer drohte es vor der verschobenen Europameisterschaft beinahe unterzugehen. Bei genauerem Hinsehen gibt es durchaus die eine oder andere bemerkenswerte Entscheidung.
Die vermeintlich relevantesten Personalia waren schon gestern durchgesickert: Marc-André ter Stegen wird Manuel Neuer nicht warmschießen, sondern sich einer fälligen Knie-Operation unterziehen. Für ihn rückt sein langjähriger Rivale Bernd Leno nach. Ob nun Leno oder Kevin Trapp – die Frage nach der deutschen Nummer 2 hat nur eingeschränkte Tragweite, da Neuer im besten, also verletzungsfreien und erfolgreichen, Falle ohnehin sämtliche Spiele bestreiten wird. Angesichts der geringen Einsatzchancen wird es auch ter Stegen verschmerzen können, das Turnier der Corona-Einschränkungen zu verpassen.
Auch Dortmunds Kapitän Marco Reus hatte bereits via Social Media verkündet, dass er nicht dabei ist. Wie so oft in seiner Karriere ist Reus mit kleineren Verletzungen beschäftigt und benötigt Regeneration. Schade, denn Reus hatte sich nicht nur zuletzt in extrem starker Form gezeigt – auch persönlich hätte er der Mannschaft viel geben können.
Müller und Hummels zurück – der Umbruch ist unterbrochen
Hier kommt auch die Rückkehr der Weltmeister Thomas Müller und Mats Hummels ins Spiel. So einen Umbruch könne man ja auch mal unterbrechen, erklärte Bundestrainer Jogi Löw während der virtuellen Pressekonferenz aus der Frankfurter DFB-Zentrale. Diese Medaille hat zwei Seiten. Einerseits ist es natürlich klar, dass des Trainers Rückwärtsrolle viel mit seinem Rücktritt nach der EM zu tun hat. Das zuvor kolportierte Projekt Umbruch interessiert ihn nun nicht mehr. Er möchte nach Möglichkeit das Turnier gewinnen.
Dafür scheint die Rückholaktion in der Tat geeignet. Insbesondere Hummels zählt in seiner aktuellen Verfassung zum Besten, was Deutschland in der Defensive aufbieten kann. Er dürfte seinen Stammplatz sicher haben und mit ihm sind große Hoffnungen auf Stabilisierung der zuletzt teils erschreckenden Abwehr verknüpft. Auch Müller ist nicht nur eine echte Persönlichkeit, sondern hat auch sportlich in dieser Saison Top-Leistungen gebracht. Ob er aber in der deutschen Nationalmannschaft (ohne einen Lewandowski vor sich) genau so viele Vorlagen gibt, wie beim FC Bayern, gilt es abzuwarten. Beim letzten Turnier machte der ewige „Lausbub“ eher durch Verhandlungen mit dem Schiedsrichter ob der Nachspielzeit auf sich aufmerksam als mit seiner fußballerischen Leistung.
Entscheidungen in der Offensive: Volland ist dabei, Stindl nicht
Nicht nur bei den beiden Granden ist Löw über seinen Schatten gesprungen. Er hat sich auch dazu durchgerungen, auf seinen vermeintlichen Lieblingsschüler Julian Draxler zu verzichten, der in Paris seit Jahren keine nennenswerte Rolle spielt, im Kader des DFB aber stets gesetzt schien. Damit fehlt ein weiteres Mitglied der 2014er Weltmeister-Mannschaft (auch wenn Draxler hier ebenfalls fast nicht spielte). Gute Leistung honoriert hat Löw im Falle des Freiburger Kapitäns Christian Günter. Neben Marcel Halstenberg und Robin Gosens ist er der dritte lupenreine Linksverteidiger, weshalb mindestens einer aus dem Trio bei der EM dauerhaft auf der Tribüne Platz nehmen dürfte. Günters gute Leistungen waren Löw natürlich nicht entgangen, schließlich verbringt der Bundestrainer gefühlt 90 Prozent seiner Stadionbesuche im heimischen Freiburg.
Ein Knackpunkt der Kadernominierung könnte Kevin Volland sein. Obwohl schon einige Jahre nicht mehr dabei, ist er der einzige „echte Stürmer“, der Löw wirklich zur Verfügung stand. Abgesehen von Timo Werner, dem oft vorgehalten wird, ein reiner Konterstürmer zu sein und seine Schnelligkeit im DFB-Team angesichts der meist tief stehenden Gegner nicht ausspielen zu können. Volland lebt ebenfalls von seinem Antritt, ist aber körperlich deutlich robuster und kann daher auch im Strafraum Bälle festmachen. Wir trauen Volland daher sogar einen Stammplatz zu.
Ein weiteres Element in der Offensive hätte Mönchengladbachs Lars Stindl eingebracht. Er hat zwar nicht das Tempo von Raketen wie Sané, Gnabry oder dem jungen Musiala. Dafür ist Stindl ein intelligenter Spieler, der über gute Laufwege, das Auge für den Nebenmann sowie einen überragenden Innenspann-Stoß verfügt. Ob Stindls Gladbacher Kollegen Jonas Hofmann und Florian Neuhaus Chancen auf Einsatzminuten haben werden, darf eher bezweifelt werden.