Harry Kane – Der Unterschätzte
Spät aber gewaltig scheint Englands Harry Kane nun richtig in der EURO 2020 angekommen zu sein. Der Kapitän der „Three Lions“ könnte der große Gewinner der KO-Runde werden. Und sein Heimatland endlich zur ersten Europameisterschaft führen.
Wie es so oft ist im Leben: Manchmal braucht man nur das entscheidende Erfolgserlebnis, dann ist der Knoten geplatzt. Dann gehen manchmal Dinge wie von selbst, die vorher als turmhohe Hürde erschienen.
Harry Kane brauchte ein Tor. Es ist nicht so, dass er in den ersten drei Spielen nicht abgeliefert hätte. Keineswegs hat er in der Gruppenphase reihenweise Großchancen verballert. Er kam schlicht und einfach nicht zu seinen Szenen. Gegen Kroaten, die man deutlich stärker einschätzte, als sie waren, Schotten, die mauerten und Tschechen, die gemeinsam mit den Engländern bereits qualifiziert waren, brachte Kanes Team offensiv erschreckend wenig zustande.
Zwei Tore des flinken Raheem Sterling reichten, um die Gruppe als erster abzuschließen. Dies hatte man vor allem dem Losglück, aber auch der von Trainer Southgate gut organisierten Defensive zu verdanken. Einem Spieler wie Harry Kane kommt dies aber überhaupt nicht zugute. So sehr er sich auch bemüht, sich zerrieben, gegnerische Verteidiger gebunden hatte – auf dem Papier stand die Null und so hatte sicherlich schon mancher Schreiber von der „Rainbow Press“ den Verriss schon fertig in der Schublade. Wieder mal ein englischer Hoffnungsträger der scheitern würde. Wieder mal ein Versager.
Befreiungsschlag gegen Angstgegner Deutschland
Er brauchte ein Tor. Es musste die 88. Minute her gegen den „Angstgegner“, vor dem die Three Lions ebenfalls mehr Respekt gehabt hatten, als es aufgrund dessen Leistung nötig gewesen wäre. Wieder hatte Sterling getroffen. Die deutschen Kicker zerrieben sich in der Schlussphase zwischen anhaltendem Hemmnis in der Offensive und zunehmender Fahrigkeit in der Defensive. Räume taten sich auf, endlich kam mal eine Flanke vernünftig rein. Harry Kane setzte den Kopfball knapp über der Grasnarbe an. Beim Anblick der Jubelszenen in Wembley konnte einem schwindlig werden.
Und siehe da: Plötzlich klappt es. Gegen die Ukraine im Viertelfinale traf Kane ebenso früh wie unkonventionell mit der Pike – Hauptsache drin. In der zweiten Halbzeit legte er mit traumwandlerischer Sicherheit einen Kopfballtreffer nach, den er dem ukrainischen Keeper auch noch durch die Beine lancierte.
Jetzt ist Kane da, jetzt ist England da. Die letzten beiden Spiele finden wieder im heimischen Wembley-Stadion statt. Im Halbfinale wartet mit Dänemark ein absoluter Außenseiter. Die Chance auf ein Finale scheint also so groß wie nie. Gegen England muss man erstmal ein Tor machen, dies ist im Turnier noch keiner Mannschaft gelungen. Und je länger dies in jedem Spiel so bleibt, desto größer werden Kanes Chancen, selbst wieder zuzuschlagen. Irgendwann kommt der entscheidende Ball mal durch und dann – zack.
Zu dick für die Arsenal-Jugend
In der Rolle des Unterschätzten dürfte der Star von Tottenham Hotspur sich mittlerweile sehr wohlfühlen. Als Kind fiel er einst von Lokalrivale Arsenal durch, weil er seinen Babyspeck nicht so recht loswurde. Auch der damalige Tottenham-Trainer Mauricio Pochettino befand ihn als zu dick und konnte nicht so recht etwas mit Kane anfangen. Heute ist Harry Kane dreifacher Torschützenkönig der Premier League und den Goldenen Schuh der Weltmeisterschaft 2018 hat er auch im Regal stehen.
Und dennoch rangiert er in der allgemeinen Wahrnehmung noch unter ferner Liefen. Bei der Frage nach den weltbesten Mittelstürmern – die ja immer seltener werden – fallen Namen wie Cristiano Ronaldo, Karim Benzema oder Romelu Lukaku. Zlatan Ibrahimovic ist Kult. Hierzulande wird natürlich Robert Lewandowski genannt und selbst Erling Haaland stößt schon in die Weltklasse-Riege vor. Doch außer Ronaldo hat keiner der genannten eine Europameisterschaft gewonnen. Wer zuletzt lacht, lacht am besten.
(Foto: AFP)