Gut gebrüllt, Löw!
Der scheidende Bundestrainer zeigt sich auf der Zielgeraden seiner Amtszeit plötzlich von einer ganz neuen Seite. Er stellt klare Forderungen an seine Mannschaft, trifft überfällige Personalentscheidungen und ordnet alles dem Erfolg bei der Europameisterschaft im Sommer unter. Er macht dabei eine so gute Figur, dass man sich fragt, warum er die Dinge nicht schon viel früher so gehandhabt hat.
Wenige Monate vor der Europameisterschaft und dem anschließenden Abschied von Jogi Löw als Bundestrainer weht in der Nationalmannschaft ein anderer Wind. Der Weltmeistertrainer verkündete öffentlich, dass er bei Nominierung, Trainingsintensität und Aufstellung keine Abstriche mehr aus Rücksicht auf Vereinsinteressen machen werde, weil sich die Mannschaft bis zum Sommer in ihrer Idealbesetzung einspielen können soll. In der jüngeren Vergangenheit hatten immer wieder Leistungsträger aufgrund des eng getakteten Spielplans ihrer Vereine Pausen bekommen. Damit soll nun Schluss sein.
Der Bundestrainer nahm seine Mannschaft außerdem öffentlich in die Pflicht. Er forderte eine deutliche Verbesserung der Kommunikation auf dem Platz, die auch ein großes Defizit bei der 0:6-Blamage in Spanien darstellte.
Obendrein zeigte Löw erstmals klare Kante gegenüber Julian Draxler und Julian Brandt, die beide trotz weniger Einsatzzeiten in ihren Vereinen bisher immer nominiert worden waren. Diesmal versagte ihnen Löw jedoch die Einladung und sendete damit eine deutliche Botschaft: Nur wer im Verein regelmäßig und überzeugend spielt, ist ein Kandidat für die Nationalmannschaft. Das Potenzial allein reicht nicht.
Zu guter Letzt präsentierte sich Löw plötzlich auch offen für eine Rückkehr des aussortierten Trios Boateng, Hummels und Müller, nachdem er jene zwei Jahre lang starrköpfig ausgeschlossen hatte.
Löws Einsicht kommt (zu) spät
All diese Maßnahmen waren überfällig und dürften von der Öffentlichkeit positiv aufgenommen werden. Es sei allerdings die Frage gestattet, warum sie der Bundestrainer erst jetzt auf seiner Abschiedstournee ergreift.
Löws Standpunkt ist, dass er den eingeleiteten Umbruch aufgrund der besonderen Umstände zugunsten des EM-Erfolgs unterbricht und danach nicht mehr zuständig sein wird. Allerdings wären Löws neue Methoden auch zuvor problemlos mit dem Umbruch vereinbar gewesen. Auch eine Mannschaft im Umbruch hätte man öffentlich so in die Pflicht nehmen können. Auch eine Mannschaft im Umbruch hätte von einem Leistungsprinzip profitiert, das Spielern ohne ausreichende Spielpraxis im Verein eine Nominierung verwehrt hätte. Ein solches Leistungsprinzip hätte stattdessen zwingend die Einladung von Spielern wie dem Top-Vorbereiter der Bundesliga Thomas Müller vorgeschrieben.
Löws neue Strategie ist richtig und könnte einen positiven Effekt auf den Ausgang der Europameisterschaft haben. Es hätte aber auch nichts dagegengesprochen, sie bereits viel früher umzusetzen. Der Bundestrainer wandte stattdessen in der Vergangenheit viel Energie auf, um seine diskussionswürdigen Prinzipien gegen gute Argumente zu verteidigen. Sein später Sinneswandel ist dafür kein vollständiger Ausgleich.
(Foto: AFP)