Das Spiel der EURO 2020: Der Schweizer Wahnsinn gegen Frankreich

Granit Xhaka jubelt mit dem Schweizer Nationaltrainer Vladimir Petkovic

Bevor wir uns wieder der Fußball-Bundesliga widmen, wagen wir noch einen letzten Rückblick auf die EURO 2020 und vergeben einen Sonder-Award: Zum Spiel des Turniers krönen wir die fantastische Begegnung zwischen Frankreich und der Schweiz im Achtelfinale.

Man meckert ja doch recht viel über den modernen Fußball. Auch die Art und Weise, wie diese Europameisterschaft stattgefunden hat, bietet viel Angriffsfläche für berechtigte Kritik. Doch manchmal kommt es vor, dass man die kindliche Faszination zurückfindet, mit der man diesem Sport eines Tages verfallen ist. Ein einziger Moment kann ausreichen, um all die Korruption rund um die Verbände, die Kommerzielle Ausschlachtung sämtlicher Wettbewerbe auf Kosten der Fans, die Image-Videos und Werbespots, die Unterarm-Tattoos, Undercuts und Blattgold-Steaks wenigstens für einen Moment zu vergessen und sich einfach an der Magie des Fußballs zu erfreuen.

Frankreich gegen die Schweiz – das war so ein Abend, an dem man einfach nicht anders konnte, als sich hinzugeben und zu genießen. Eigentlich war der Weg doch vorgezeichnet – Frankreich, der haushohe Favorit, hatte sich in der vermeintlichen „Todesgruppe“ mit Deutschland und Portugal an die Spitze gesetzt. Die hochgelobte Offensive war langsam ins Rollen gekommen und Rückkehrer Karim Benzema hatte pünktlich im letzten Gruppenspiel getroffen.

Kein Abend wie jeder andere

Die Schweiz hingegen hatten viele schon wieder in die gern genutzte Schublade sortiert: Stört niemanden, hat auch passable Spieler dabei aber irgendetwas besonderes ist da nicht zu erwarten. Dann lief das Spiel und Haris Seferović wuchtete plötzlich einen Kopfball ins französische Gehäuse. Dass prall gefüllt Stadion in Bukarest tobte erstmals und wer den Jubel der Schweizer sah, der konnte vielleicht erahnen, dass dies kein Abend wie jeder andere werden würde.

Mit der knappen Führung ging die Mannschaft von Vladimir Petković in die Pause und kurz nach Wiederanpfiff drang der starke Steven Zuber – er hatte auch schon das 1:0 aufgelegt – in den Strafraum und wurde vom Pavard, den er eigentlich schon hatte aussteigen lassen, von den Beinen geholt. Beim fälligen Elfmeter ließ man vor dem Fernseher so langsam vom Chips-Eimer ab und schaute mal genauer hin – hier würde doch nicht etwa die „kleine biedere Schweiz“ den hochgelobten Weltmeister aus dem Turnier werfen?

Rodriguez vergibt die Riesenchance

Der Wahnsinn begann. Ricardo Rodríguez, der während seiner Wolfsburger Zeit von zehn Elfmetern gefühlt elf verwandelt hatte, scheiterte an Hugo Loris. Oh je. Eine bessere Chance würden die Schweizer sicherlich nicht mehr bekommen. Jetzt müsste also gezittert werden und für die Franzosen könnte dies ja der dringend benötigte Weckruf sein. Und so kam es dann auch. Der Weltmeister brannte in den folgenden 20 Minuten ein wahres Feuerwerk ab. Zwei der drei Tore, die der Favorit erzielte, haben es in unser Ranking der fünf schönsten Treffer des Turniers geschafft. Mit dem Selbstbewusstsein, dass etwa Paul Pogba nach seinem Sonntagsschuss zum 3:1 per Torjubel zur Schau stellte, würden die Franzosen nur so ins Finale durchrauschen.

„Und der arme Rodriguez“, dachte man sich in dem Moment. Der würde sicherlich noch lange an diesen Schuss zurückdenken müssen. Doch irgendetwas war anders heute. In der 81. Minute erkämpften sich zwei Schweizer den Ball auf dem rechten Flügel. Der eingewechselte Mbabu, der eine enorme Bissigkeit an den Tag legte, flankte scharf in den Strafraum und wieder war es Seferović, von dessen Stirn der Ball in die Maschen prallte. Sandro Wagner, der das Spiel für das deutsche Fernsehen begleitete, musste hysterisch lachen, denn mit Vernunft war schon jetzt kaum noch zu beschreiben, was sich an diesem Abend zwischen den Stadionmauern abspielte.

Es war ausgerechnet Wunderkind Pogba, der sich dann in der 90. Minute den Ball an der Mittellinie abjagen ließ. Sein Pendant Granit Xhaka schaltete schnell und spielte einen großartigen Pass in die Schnittstelle. Der eingewechselte Mario Gavranović ließ auch noch seinen Gegenspieler ins leere grätschen und nutze die so gewonnene Sekunde, um Loris mit dem idealen Flachschuss ins Eck zu überwinden. Als sei das alles nicht genug gewesen, jagte der eingewechselte Kingsley Coman Sekunden später noch eine Direktabnahme an die Latte. 90 Minuten waren vorbei, die kaum jemand so erwartet hätte. Sowohl vor der Verlängerung als auch vor dem Elfmeterschießen wirkte die Teambesprechung der Schweizer beeindruckend ehrgeizig. „Wir machen das!“, fing das Mikrofon Xhakas Losung an seine Mitspieler ein.

Starken Elfmetern der Schweizer ließen die Franzosen traumwandlerisch sichere folgen. Pogba und Kimpembe jagten die Pille jeweils genau unters Lattenkreuz. Bis Kylian Mbappé antrat, der Mann, der schon mit 17 so beunruhigend selbstbewusst wirkte, als wisse er genau, wie viele Weltfußballertitel er einst einheimsen wird. Der Schweizer Keeper Yann Sommer ahnte die Ecke. Eine Sekunde hielt er noch den Jubel zurück, was vielleicht der einzige Wehrmutstropfen an diesem elektrisierenden Abend war. Denn anno 2021 muss auch beim Elfmeter die VAR-Kontrolle abgewartet werden. Dann hatten die Schweizer Spieler und Fans endlich die Lizenz zum Durchdrehen. Das Spiel wäre mit jedem Ausgang ein denkwürdiges gewesen, doch wenn der Underdog auch noch siegt, dann wird das Bild noch einmal vervollständigt. Ansonsten schließen wir uns dem TV-Experten Wagner an und danken auch heute nochmal allen Beteiligten dafür, dass sie uns dieses Fußballspiel geschenkt haben.

Foto: AFP

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