Throwback Thursday: 20 Jahre Meisterschaft der Herzen oder: Als Fußball noch spannend war
Gestern jährte sich zum 20. Mal die Schalker Vier-Minuten-Meisterschaft. In einer Zeit, da der FC Bayern vergeblich nach ernstzunehmender Konkurrenz sucht und Schalke 04 in die 2. Liga taumelt, erinnern wir uns an eine graue Vorzeit. Damals war die Fußballwelt eine andere, denn die Meisterschaft war am letzten Spieltag völlig offen.
Heutzutage gibt es Menschen, die weiterführende Schulen besuchen und sich an keinen anderen Meister als den FC Bayern erinnern können. Ob sie überhaupt eine Vorstellung davon haben, welch elektrisierte Spannung über einem Samstagnachmittag liegt, wenn das ganze Land sich fragt, wer am Ende die Schale in der Hand hält? Wenn Kneipen gerammelt voll sind, sich verschwitzte Leute um ein Radiogerät drängen, um nur ja nichts zu verpassen? Es war fantastisch.
Dass der FC Bayern mit einer komfortablen Ausgangsposition in den letzten Spieltag ging, war lange nicht zu erwarten. Schalke 04, damals noch frei von russischem Öl und Rheda-Wiedenbrücker Wurst, hatte eine fantastische Mannschaft, die eine ebenso fantastische Saison gespielt hatte. Ein Magisches Dreieck im Angriff, bestehend aus der heutigen Schalke-Legende Ebbe Sand, dem Belgier Emile Mpenza sowie dem unter reichlich Getöse vom Lokalrivalen gewechselten Andreas Möller, wirbelte jede Abwehr durcheinander. Schalke feierte so manches Fußballfest, gewann aber auch die engen, die „dreckigen“ Spiele. Wer das tut, der ist in der Regel reif für den Titel.
Schalke mit Kraftakt gegen Unterhaching
Bei den Bayern hingegen war die Saison eher „kompliziert“. Dass sie am Ende nicht nur mit der Meisterschaft, sondern auch mit dem Champions-League-Triumph in die Geschichte eingehen sollten, war lange Zeit nicht abzusehen, angesichts ärgerlicher Punktverluste. Nur gegen Ende schien den Gelsenkirchenern ein wenig die Puste auszugehen und wie immer lag der Rekordmeister schon auf der Lauer. Bereits der vorletzte Spieltag war spektakulär, als Bayerns Edeljoker Alexander Zickler und Stuttgarts zaubernder Zehner Krassimir Balakov fast zeitgleich mit unwahrscheinlichen Fernschüssen einen bayerischen Sieg beziehungsweise eine Schalker Niederlage besorgten.
So reichte für die Bayern ein Unentschieden am letzten Spieltag in Hamburg. Das aber auch nur, wenn Schalke parallel sein Heimspiel gegen den Außenseiter Unterhaching gewinnen würde. Dies gestaltete sich schwieriger als erwartet, denn der Münchener Stadteilklub kratzte und biss. 1:0 und 3:1 führten die Hachinger beim letzten Spiel im Gelsenkirchener Parkstadion. Kult-Trainer Huub Stevens, der Zigarre qualmende Manager Rudi Assauer, der im HSV-Trikot auf der Tribüne sitzende Andreas Müller – sie alle sahen die Fälle bereits davonschwimmen. Doch S04 zeigte einen Kraftakt, drehte das Spiel dank Zaubertoren von Jörg Böhme und dem jungen Gerald Asamoah und siegte mit 5:3.
Währenddessen stand es in Hamburg lange 0:0, bis in der letzten Minute eine HSV-Flanke in den Bayern-Strafraum flog und Sergej Barbarez – der eine ähnlich gute Saison wie Ebbe Sand spielte – tatsächlich zum 1:0 einköpfte. Barbarez sagte Jahre später in einem Interview, dass es ihm im Nachhinein unangenehm sei, wie intensiv er gejubelt hatte. Schließlich wäre der Sieg sportlich für den HSV bedeutungslos gewesen. Es ging lediglich darum, den Bayern die Meisterschafts-Party zu verderben.
Als die Nachricht vom Hamburger Führungstreffer durch die Radios dröhnte, brachen in Gelsenkirchen alle Dämme. Die Zuschauer stürmten das Spielfeld, Menschen lagen sich jubelnd in den Armen – nur Assauer versuchte die Euphorie einzudämmen und fuchtelte dazu mit seiner riesigen Zigarre wie mit einem Taktstock vor sich herum. Schalke-Torwart Oliver Reck sprintete in die Umkleide-Kabine, weil er wusste, dass dort ein Fernsehgerät stand.
In Hamburg mussten sich die Bayern nach dem vermeintlich entscheidenden Gegentreffer irgendwie aufraffen und das Unmögliche versuchen. „Es war vor allem die Energie von Oliver Kahn, die dafür verantwortlich war“. In der Tat, der „Titan“ hob seine am Boden liegenden Mitspieler geradezu auf und scheuchte sie nach vorne. Das gebellte „weiter, immer weiter“ ist längst in die Populärkultur eingegangen.
Ebenso die Tatsache, dass auf Schalke der Kultreporter Rolf „Rollo“ Fuhrmann die Fehlinformation erhielt, dass in Hamburg abgepfiffen sei. „Ihr habt es“, rief er Assauer ins Ohr, der daraufhin die Faust ballte. Vier Minuten lang kannte der Jubel der Schalker tatsächlich keine Grenzen mehr. Derweil kam es in Hamburg zu dem Freistoß, über den noch lange diskutiert werden würde. Mathias Schober, derselbe, der ausgerechnet Schalke 20 Jahre später im Management wieder zu altem Glanz führen soll, hätte genug Zeit gehabt, den Ball über das Stadiondach zu schießen. Stattdessen entschloss er sich, das Spielgerät in die Hand zu nehmen. Der Schiedsrichter entschied auf Rückgabe, da ein Hamburger Abwehrspieler den Ball abgegrätscht hatte. Doch ob dies ein gewollter Rückpass war, darf auch heute noch bezweifelt werden.
Andersson versprach: „Ich haue ihn rein.“
Der Freistoß im Hamburger Strafraum war die beste Gelegenheit, die die Bayern noch bekommen konnten. Wieder schlug die Stunde von Oliver Kahn, den es nun nicht mehr auf seiner Torlinie hielt. Stattdessen machte er Stress auf der von Kollege Schober, stiftete Unruhe, schubste sich mit den HSV-Spielern herum. Sämtlich Hanseaten stellten sich nun auf die Torlinie, während Bayerns Alphatier Stefan Effenberg die Pille zurechtlegte. Ihm zur Seite eilte Innenverteidiger Patrick Andersson, den „Effe“ schon seit gemeinsamen Mönchengladbacher Tagen kannte. „Ich haue ihn rein“, soll der Schwede mit dem Gewaltsfuß zu Effenberg gesagt haben. Dieser habe seinem Mitspieler in die Augen geschaut und sei sich sicher gewesen, dass das ein Versprechen war.
„Ich wusste, dieser Freistoß wird auch ein Tor“, sagte auch Oliver Reck, der immer noch vor dem Fernsehgerät in der Gelsenkirchener Umkleidekabine saß. Das ganze Land hielt den Atem an und Anderssons Vollspannstoß krachte in die Maschen. Die Bilder der trauernden Schalker, Assauers flammende Rede vor der Geschäftsstelle am nächsten Morgen sowie der ausgelassene Jubel der Bayern – bis heute kann jeder, der es miterlebt hat, diese Bilder in seinem Kopf abrufen.
(Foto: AFP)